Die EU verbietet Neobrokern den Kern ihres Geschäftsmodells. Die Mitgliedstaaten sind uneins, die Maßnahme ist entsprechend heftig umstritten. Robin Misterek erläutert die Konsequenzen für Börsen, Broker und Kleinanleger.
Im internationalen Vergleich galten die Deutschen lange Zeit als Börsenmuffel. Doch seit der Corona-Pandemie hat das Interesse an Aktien und Fonds insbesondere bei jungen Leuten drastisch zugenommen. Das Deutsche Aktieninstitut zählte im vergangenen Jahr 12,9 Millionen Aktionäre – so viele wie seit 20 Jahren nicht. Angezogen wurden die neuen Kleinanleger vor allem von Neobrokern, die über Apps einen niedrigschwelligen Zugang zur Börse anbieten. Zu den Marktführern in Deutschland gehören Trade Republic und Scalable Capital. Sie vereinnahmen bei der Ausführung von Wertpapier-Orders bloß geringe oder gar keine Gebühren und haben den Aktienmarkt so für Bevölkerungsschichten geöffnet, die nur kleine Summen anlegen möchten.
Damit soll nun aber vielen Presseberichten zufolge Schluss sein, weil die EU das Geschäftsmodell der Neobroker zerstört habe. Die Folge sei ein "Preishammer für Millionen Kleinanleger"; günstige Aktien- und ETF-Sparpläne zur Altersvorsorge sollen bald der Vergangenheit angehören. Rückendeckung bekommt dieses Narrativ von Finanzminister Christian Lindner, der auf Twitter von einem bedauerlichen Schritt und einem falschen Signal "an die sich allmählich bei uns entwickelnde Aktienkultur" spricht. International war die Kritik am Geschäftsmodell von Neobrokern zuletzt allerdings zu groß geworden.
Wie Neobroker bisher Geld verdienen
Neobroker leiten die von ihren Kunden abgegebenen Kauf- und Verkaufsaufträge über Wertpapiere (den sog. Order Flow) an kleine Börsen (z.B. in Hamburg oder München) bzw. an deren elektronische Handelssysteme. Damit dort nicht jeder Verkäufer auf einen passenden Käufer und nicht jeder Käufer auf einen passenden Verkäufer warten muss, treten sog. Market Maker in die Geschäfte ein. Zu einem aktuellen Kurs verkaufen sie also Wertpapiere an Anleger oder kaufen dieselben von ihnen. Ihr Profit liegt dabei in der Differenz (dem sog. Spread) zwischen dem gestellten Kauf- und Verkaufspreis. Market Maker kaufen ein Wertpapier im selben Zeitpunkt also immer günstiger als sie es verkaufen. Sie haben somit ein Interesse, möglichst viele Geschäfte abzuschließen und bezahlen deshalb die Neobroker dafür, dass diese ihnen exklusiv die Orders ihrer Kunden zuleiten.
Diese Rückvergütung nennt sich Payment for Order Flow (kurz PFOF) und ist eine der wichtigsten Einnahmequellen für Neobroker. Pro Order vereinnahmt Trade Republic z.B. nur einen Euro von seinen Kunden, erhält i.d.R. aber noch bis zu drei Euro (im Einzelfall sogar 17,60 Euro) vom Market Maker dazu. Daraus folgt: PFOF und die niedrigen Ordergebühren sind zwei Seiten derselben Medaille, denn nur aufgrund der zusätzlichen Einnahme können Neobroker ihren Kunden so günstige Gebühren anbieten. Abgesichert wird das durch § 70 Abs. 1 Nr. 1 Wertpapierhandelsgesetz (WpHG), wonach solche Zuwendungen von Dritten den Kunden besserstellen müssen.
Warum die EU Payment for Order Flow regulieren möchte
Trotzdem möchte die EU nun regulatorisch gegen PFOF vorgehen. Parlament und Rat haben sich kürzlich darauf verständigt, das Vergütungsmodell im Rahmen der anstehenden Novelle der Verordnung (MiFIR) und der Richtlinie (MiFID II) über Märkte für Finanzinstrumente zu verbieten.
Dabei hat der europäische Gesetzgeber vor allem die Bekämpfung von Interessenkonflikten im Blick: Neobroker sind (in Deutschland gem. § 82 WpHG) verpflichtet, Orders im besten Interesse ihrer Kunden auszuführen. Dieses Interesse besteht vor allem darin, mit einem Market Maker zu kontrahieren, der einen günstigen Preis (also einen niedrigen Spread) stellt. Der Neobroker hat dagegen ein eigenes Interesse, die Orders an einen Market Maker zu leiten, der im Wege von PFOF am meisten dafür bezahlt. Dabei liegt es nahe, dass der für den Neobroker attraktivste oft nicht auch der für den Kunden günstigste Market Maker ist, weil größere Spreads höhere Rückvergütungen erlauben.
Da die Neobroker ihren Kunden meist nur einen Handelsplatz zur Auswahl stellen, kann der dortige Market Maker zudem aufgrund der fehlenden Konkurrenz leichter größere Spreads durchsetzen. Die Kunden werden also spätestens vom Market Maker zur Kasse gebeten, auch (bzw. gerade) wenn sie einen Neobroker ohne Order-Gebühren nutzen.
Kostenlosen Wertpapierhandel gibt es nicht
Der Spread und die Rückvergütung an den Neobroker bleiben bei Kleinanlegern aber oft völlig unbemerkt. Der bisherige Regulierungsansatz zielte deshalb auf Transparenz: Gem. § 70 Abs. 1 Nr. 2 WpHG müssen Neobroker Existenz, Art und Umfang der erhaltenen Zuwendungen offenlegen. Das hat allerdings nur wenig bewirkt. Zwar weisen Neobroker in ihren seitenlangen Geschäftsbedingungen auf die Einnahmequelle hin, doch kaum ein Anleger liest das und versteht, wie mit seinen Orders Geld verdient wird.
Die Kosten werden in einigen Fällen auch durch geschicktes Marketing verschleiert, etwa wenn sich Broker in der Werbung als "Gratisbroker" mit "Free Trading" inszenieren (was mit Blick auf das Wahrheitsgebot aus § 63 Abs. 1 WpHG rechtswidrig sein dürfte). Die Europäische Wertpapier- und Marktaufsichtsbehörde (ESMA) hatte deshalb schon 2021 über Bedenken beim Anlegerschutz gesprochen und hervorgehoben, dass es keinen kostenlosen Wertpapierhandel gibt. Darauf reagiert nun der europäische Gesetzgeber mit einem Totalverbot von PFOF, wie es (faktisch) in ähnlicher Form u.a. schon im Vereinigten Königreich oder in den Niederlanden besteht.
Was wir (nicht) aus den USA lernen können
Aus den USA ist bekannt, dass Market Maker sich den Order Flow von Neobrokern besonders viel kosten lassen. Dabei spielt eine wichtige Rolle, dass die Kunden von Neobrokern vor allem private Kleinanleger sind. Diese verfügen über wenig Sonderwissen und verursachen deshalb nur geringe Risiken für den Market Maker. Viel mehr noch: Sie sind überwiegend äußerst unerfahren. In den USA nennt man sie auch despektierlich "dumb money" ("dummes Geld"), weil sie im Schnitt uninformierter und deshalb mit größeren Verlusten handeln. Je "dümmer" die Orders abgegeben werden, desto besser ist das i.d.R. für den Market Maker. Er nimmt nämlich die Gegenposition zum Anleger ein und macht Kursgewinne, wenn der Anleger verliert.
PFOF hat deshalb in den USA inzwischen einen sehr schlechten Ruf. Groß gemacht wurde die Praxis dort vom berühmten Anlagebetrüger Bernie Madoff, der Bestseller-Autor Michael Lewis brandmarkte sie als "verrückten Anreiz". Die US-Börsenaufsicht SEC treibt inzwischen ebenfalls eine regulatorische Beschränkung von PFOF voran. Doch auch wenn sich der europäische Gesetzgeber im Kapitalmarktrecht häufig erfolgreich an den USA orientiert, hinkt der Vergleich in diesem Fall: In den USA werden die Orders inzwischen völlig an den Börsen vorbei zu einem Oligopol weniger Market Maker geleitet. Dabei wurde wiederholt zu Lasten der Kunden gegen Recht verstoßen, was für den Neobroker Robinhood schon mehrfach Millionenstrafen nach sich zog. Solche Extreme gibt es hierzulande bisher nicht.
Das geplante EU-Verbot ist nicht ausgereift
Zur Wahrheit gehört hier vielmehr, dass Kleinanleger auch von PFOF profitieren können. Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) hat vorgerechnet, dass die Kunden von Neobrokern bei kleinen Handelsvolumina innerhalb der Haupthandelszeiten unterm Strich besser dastehen als bei anderen Brokern. Anders sieht es dagegen bei größeren Volumina und außerhalb der Öffnungszeiten großer Börsen aus. Es ist also durchaus möglich, dass Market Maker die Spreads gering halten und Neobroker ihre Kunden derart an den Rückvergütungen teilhaben lassen, dass im Ergebnis alle gewinnen. Deshalb wurde in der EU hart um das PFOF-Verbot gerungen. Vor allem Deutschland hat sich lange Zeit dagegengestemmt.
Für das Verbot sind hingegen u.a. Spanien und die Niederlande eingetreten. Dort hatten die Aufsichtsbehörden festgestellt, dass Kunden bei PFOF weit überwiegend zu schlechteren Preisen handeln. Das zeigt, wie fragmentiert die Lage innerhalb Europas ist. Mancherorts gehen einige Ziele des PFOF-Verbots deshalb ins Leere. Die EU erhofft sich etwa, dass Anleger nicht mehr von intransparenten, außerbörslichen Handelsplätzen angezogen werden, doch in Deutschland passiert das allerdings kaum. Das nun auf dem Tisch liegende Totalverbot der EU könnte sich somit als undifferenziert und überstürzt erweisen. Der Bundesrat hatte noch angemahnt, wenigstens weitere Studien abzuwarten. Trotzdem kommt das Verbot schon dieses Jahr. Deutsche Neobroker haben nach dem aktuellen Entwurf aber eine Übergangsfrist bis zum 30. Juni 2026, um ihr Geschäftsmodell umzustellen.
Das Ende der Neobroker ist unwahrscheinlich
Auch wenn sich Befürworter und Gegner des PFOF-Verbots auf den Schutz privater Kleinanleger berufen, dürften hinter der Debatte noch weitere Interessen stehen. Kunden von Neobrokern handeln in der Regel nicht mehr an den großen etablierten Handelsplätzen (in Deutschland z.B. in Frankfurt), sondern vor allem an kleinen Regionalbörsen. Diese konnten ihre Wettbewerbsposition dadurch in den vergangenen Jahren deutlich verbessern. Kein Wunder also, dass vor allem große Börsen und ihre Trägergesellschaften das Geschäftsmodell der Neobroker mit einem PFOF-Verbot torpedieren wollen.
Auf der anderen Seite haben es die Neobroker medial sehr gut verstanden, Kleinanleger für die Rettung ihres Geschäftsmodells zu mobilisieren. Dass nun ein "Preishammer" oder gar das Ende der Neobroker droht, ist aber äußerst unwahrscheinlich. Neobroker können Wertpapierhandel nämlich nicht nur durch PFOF, sondern auch durch den Zuschnitt ihrer Dienstleistungen kostengünstiger anbieten als klassische Broker. Außerdem werden die derzeit steigenden Zinsen der EZB eine neue Einnahmequelle eröffnen und den Wegfall von PFOF (teilweise) ausgleichen können.
Für Kleinanleger bleibt es – egal ob nun mit oder ohne Verbot von PFOF – dabei, dass sie die (versteckten) Kosten ihrer Transaktionen stets genau prüfen sollten.
Der Autor Robin Misterek, LL.M.oec. ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Christoph Kumpan, LL.M. (Univ. of Chicago) für Bürgerliches Recht, Unternehmensrecht und Kapitalmarktrecht an der Bucerius Law School in Hamburg.
Zitiervorschlag
Die EU reguliert Trade Republic & Co.: Kommt jetzt das Ende der Neobroker? . In: Legal Tribune Online, 24.07.2023 , https://www.lto.de/persistent/a_id/52319/ (abgerufen am: 14.11.2023 )
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